Ich hatte das komplett durchstrukturiert. Nicht „wird schon“, sondern wirklich geplant: 06:00 Uhr los aus Schüttorf, dann Hengelo, dann Zwolle, dann Amsterdam, dann Schiphol. Straff getaktet, aber es hätte gepasst. Am Tag vorher hab ich noch mit den Jungs drüber geredet und für mich war klar: Solange der erste Zug nach Hengelo kommt, ist alles gut.
Wecker kurz nach vier. Geschlafen hab ich nicht wirklich, eher so halb. Ich wache auf, zieh mich an, trink noch was, komm langsam zu mir und denke: okay, jetzt einfach abarbeiten. Und genau in diesem Moment kommt die Mail von der Deutschen Bahn: Zug entfällt.
Da stehst du dann morgens um vier. Fertig, gedanklich schon unterwegs, schon im Ablauf drin und plötzlich einfach gestrandet. Das war scheiße. Nicht, weil ich direkt Panik hatte, sondern weil du in so einem Moment merkst, wie schnell so ein „perfekt geplanter Ablauf“ einfach weg sein kann.
Ich hab nicht lange rumgeheult, sondern direkt in Lösungen gedacht. Ich hatte mehrere Optionen im Kopf.
Option eins: E-Scooter zur Firma, mein Auto holen (steht da wegen Bremsenwechsel), dann einfach bis Schiphol durchfahren. Eine Woche parken, um die 70 Euro, Bahntickets stornieren, fertig.
Option zwei: irgendwie trotzdem nach Hengelo kommen und ab da läuft’s.
Und dann gab’s noch Option drei, die ich eigentlich ungern nehme: Hilfe.
Mein Juniorchef hatte mir nämlich vorher schon angeboten: Wenn es reißt und wirklich nicht klappt, klingel mich aus dem Bett, ich fahr dich nach Hengelo. Ich nehme ungern Hilfe an. Aber ich hab kurz durchgerechnet, kurz geschluckt und dann genau das gemacht. Ich hab ihn aus dem Bett geklingelt.
Halb sechs war er da. Er fährt mich nach Hengelo, die Bahn kommt pünktlich, und ich denke: okay, wir sind wieder auf Kurs. Ich bedanke mich, bin erleichtert und trotzdem bleibt dieses Gefühl hängen: Alter, es ist nicht mal sechs Uhr und ich hab schon Stress.
Und dann kommt direkt der nächste Schlag in die Taktung. Nach ungefähr einer halben Stunde bleibt der Zug einfach stehen. Durchsage auf Niederländisch, irgendwas mit Ende, aussteigen. Dieses kurze „Hä?“ im Kopf. Ich hab mir dann noch jemanden gesucht, der Englisch spricht, nur um sicherzugehen. Aussage: Der Zug endet hier, wir müssen in einen anderen umsteigen.
Da ging bei mir kurz der Film los. Erst fällt der erste Zug aus, jetzt stoppt der nächste plötzlich, und im Hinterkopf sitzt der Flieger, der nicht wartet. In der deutschen Bahn-App: keine brauchbaren Infos. Also niederländische Bahn-App runtergeladen, Alternativen gesucht, in den nächsten Zug gesprungen, wieder umgestiegen, nochmal umgestiegen.
Es war dieses stumpfe Funktionieren. Nicht nachdenken, nicht fühlen, einfach nur dafür sorgen, dass du irgendwie am Flughafen ankommst.
Das Absurde: Am Ende war ich kurz vor neun da. Sogar eher als ursprünglich geplant. Gepäck abgeben, durch die Sicherheitskontrolle und rein organisatorisch war plötzlich wieder alles okay. Nur mein Kopf war zu diesem Zeitpunkt schon komplett auf Anschlag, weil sich der Tag so angefühlt hat, als würde ständig irgendwas versuchen, mich wieder nach Hause zu schieben.
Zwischendurch hatte ich die ganze Zeit Kontakt mit Edna. Irgendwo zwischen „es läuft alles schief“ und „ich bin trotzdem unterwegs“ hab ich sie nochmal angerufen und ihr gesagt, dass sie hoffentlich versteht, was das für ein Schritt für mich ist. Kurzstrecke ist das eine. Aber Langstrecke fliegen, das ist bei mir immer so ein Ding.
Und ich konnte nicht mal mehr sauber sagen, wovor genau ich Angst habe. Klaustrophobie ist es nicht. Kontrollverlust auch nicht so richtig. Turbulenzen sind normal und sicher, das wusste ich. Ich hatte mich vorher so viel informiert, dass es irgendwann schon fast lächerlich war. Trotzdem ist dieses Gefühl halt da. Und wenn dein Morgen schon aus Chaos besteht, wird’s im Kopf nicht besser.
Dann Boarding. Erst verzögert es sich, dann steigen wir ein, und dann kommt die Durchsage: technische Schwierigkeiten, wir können nicht abheben.
In dem Moment dachte ich wirklich: Bahn kommt nicht. Flieger fliegt nicht. Irgendwas stimmt heute nicht. Ich war kurz richtig in mich gekehrt und hatte diesen Gedanken: Vielleicht sollte ich den Flug gar nicht antreten. Nicht, weil ich ernsthaft umkehren wollte, sondern weil mein Kopf in solchen Momenten gerne so tut, als wäre Rückzug die vernünftigste Option.
Am Ende war es „nur“ die Ladeluke vom Cargo-Bereich, die nicht automatisch schließen wollte. Musste repariert werden, dann manuell schließen. Dadurch hat sich alles um anderthalb Stunden verzögert.
Irgendwann ging’s dann tatsächlich los Richtung Rollbahn und genau da hat es bei mir wieder geklickt: Jetzt gibt’s kein Ausweichen mehr. Und während wir beschleunigt haben, kam dieses alte Gefühl nochmal hoch: Bis hierhin ist alles schiefgelaufen. Wenn jetzt auch noch der Start scheiße wird, dann gute Nacht.
Und genau da hab ich angefangen zu schwitzen. Nicht vorher. Nicht beim Warten. Sondern in dem Moment, wo es wirklich losging. Vor allem über die Hände. So schlimm, dass sie irgendwann aussahen, als hätte ich sie zu lange ins Wasser gehalten: aufgequollen und komplett nass.
Als wir dann endlich oben waren und die erste Servicerunde kam, Wasser und dieses Erfrischungstuch, war ich richtig dankbar. Das war wie so ein kleiner Reset.
Was mir dann generell geholfen hat, war tatsächlich nicht irgendein Trick, sondern die Menschen um mich herum. Ich hab die ganze Zeit beobachtet, wie gelassen alle waren. Der Typ neben mir, Kapuze drüber, schlafen. Vor mir Leute am Laptop, Musik, Bücher. Niemand hat sich aus der Ruhe bringen lassen. Irgendwann hab ich mich dabei ertappt, wie ich mich ernsthaft frage: Warum mach ich mich so verrückt?
Ich hatte beim Einsteigen auch den Flugbegleitern gesagt, dass ich ein bisschen Angst habe. Die wollten wissen, wovor. Und ich konnte es nicht mal wirklich beantworten. Ich hatte einen guten Platz: Fenster, über dem Flügel. Besser ging es eigentlich nicht.
Und selbst als später mal eine Durchsage kam, niederländischer Akzent, „a little bit of turbulence“, war das fast eher beruhigend als schlimm. Einfach, weil es so unaufgeregt rüberkam.
Der Flug nach Uganda geht auf dem Hinweg fast immer über Kigali. Wir waren wegen der Cargo-Geschichte verspätet, und der Pilot meinte auch, dass der Zwischenstopp wahrscheinlich länger dauert, weil die Luke wieder manuell geschlossen wird. Wir sollen bitte sitzen bleiben, damit der Turnaround schneller geht.
Mein Dad hat mich währenddessen per Flightradar verfolgt und mir geschrieben, ich hätte es ja fast geschafft, nur noch zwei Stunden. Ich hab mich kurz gewundert, weil Kigali nach Entebbe eher kurz ist, aber dann war’s wieder dieser Zeitzonen-Kram: Kigali eine Stunde Unterschied zu Deutschland, Entebbe zwei Stunden. Plötzlich ergeben Zeiten keinen Sinn mehr, obwohl alles stimmt.
Der Abflug in Kigali war schön, weil alles ordentlich beleuchtet war. Und dann kommt der Kontrast: Entebbe. Es war dunkel, und du landest quasi in die Dunkelheit rein. Du fliegst über den Viktoriasee an, und wenn es Nacht ist, siehst du da draußen einfach nichts. Keine Orientierung. Kein „aha, da ist jetzt die Welt“.
Genau da hat mir diese Flugkarte geholfen, die manche Flieger im System haben, wo du Höhe, Geschwindigkeit und Position siehst. Das war für mich wie so ein Geländer im Kopf: okay, wir sinken, wir landen, alles normal.
Dann endlich Boden. Aussteigen, rein, Immigration. Das hat gedauert. Auch mit E-Visa. Alles ging irgendwie manuell: Fingerabdrücke, Foto, das volle Programm. Da hab ich schon gemerkt: Hier ticken die Uhren anders.
Danach zum Gepäckband. Entebbe ist ein kleiner Flughafen, und mein Koffer war tatsächlich schnell da. Ich hatte mehrmals „ERIC“ draufgeschrieben, auffällig, damit ich ihn sofort sehe und gar nicht lange suchen muss.
Am Ausgang haben die Mädels an der Wechselbude gleich gewunken und zu sich gezeigt. Ich hab nur gegrinst, abgewunken und gedacht: nee, passt, ich bin versorgt. Wir wollten sowieso zur Bank, und ich kann mit meinem Konto auch weltweit gut abheben.
Ausgemacht war: Ich komme raus, da ist ein Gorilla, und dort wartet Edna.
Und dann war’s für mich kurz ein komisches Gefühl, weil es genau andersrum war als sonst. Normalerweise war ich der, der Edna abgeholt hat. Diesmal war ich der Außenseiter, der Weiße unter lauter Schwarzen.
Ich komme raus, suche sie und sehe sie erst mal nicht. Überall Menschen, Bewegung, Stimmen, und ich stehe da mit meinem Koffer und diesem „okay, und jetzt?“-Moment. Ich bin nicht derjenige, der untergeht, sondern der, der auffällt. Und genau deshalb hat sich das Suchen für einen Augenblick fast komisch angefühlt, als würde jeder merken, dass ich gerade nicht weiß, wohin mit mir.
Schließlich kam der Moment, als ich sie dann am Rand stehen sah, mit einem breiten Grinsen. Und in dem Moment spürte ich nur noch Erleichterung und alles fiel von mir ab.
Sie hat mich kurz in den Arm genommen. Kein großes Theater, weil das da in der Öffentlichkeit eher nicht so passt. Dann sind wir zum Auto. Es stand Wasser für mich bereit und ein Strauß Blumen. Rosen. Die ersten, die ich in meinem Leben bekommen habe, ungelogen. Ich war kurz perplex, fast sprachlos.
Edna meinte nur: Komm, setz dich hinten rein, atme erst mal durch, genieß kurz den Moment. Ich zahl schnell das Parkticket.
Als sie zurückkam, sind wir los. Und dann das nächste neue Bild: Edna fährt.
Wir haben unsere Sitzpositionen nicht geändert. Ich links, sie rechts, wie immer. Aber ich hatte sie in den letzten drei Jahren noch nie fahren sehen. Und ja, es war chaotisch, sogar schon auf dem Parkplatz. Einer will rein, einer will raus. Aber es war ruhig dabei. Kein Stress, kein Gepöbel, kein Druck.
Sie hat gegrinst, zu mir geschaut und gesagt: “Welcome to Uganda.”
Wir sind nicht mehr weit gefahren. Es war mitten in der Nacht. Sie hatte eine Unterkunft gebucht und meinte, wir schlafen jetzt erst mal. Ich soll duschen, mich frisch machen, ab ins Bett. Morgen früh sieht die Welt anders aus.
Draußen waren so 27, 28 Grad. Ich hatte noch geschlossene Schuhe an, eine dünne Jacke, Jogginghose, weil Flug. Und trotzdem war es nicht unangenehm. Edna hatte mir vorher gesagt, die Hitze in Uganda ist anders als in Deutschland. Und genau so hat es sich angefühlt.
Ich war gar nicht komplett erschöpft, aber ich war froh, als das Licht aus war. Einfach nur froh, sie endlich im Arm zu haben, mit der Erwartung, dass wir ein paar schöne gemeinsame Tage haben.
Und während ich da lag, war mir nur eins klar: Ich bin angekommen. Alles andere ist morgen dran. Augen zu. Endlich ruhig.